Verbannung ans „Ende der Welt“ auf unbestimmte Zeit, körperliche Schwerstarbeit, mentale Verrohung: Wer zu Zeiten des russischen Zarenreichs in das sibirische Exil geschickt wurde, verschwand nicht nur – oft für immer – aus der Zivilgesellschaft. In den Arbeitslagern schufteten sich Männer und Frauen zu Tode, falls sie den über 3.500 Kilometer langen Fußmarsch bis ins äußerste Sibirien überhaupt überstanden hatten. Der britische Historiker Daniel Beer, Experte für moderne russische Geschichte, zeichnet in seinem aktuellen Buch „The House of the Dead“ den Alltag der Häftlinge nach, ihre Verzweiflung und ihre Überlebensstrategien. Am Freitag, 23. November 2018, präsentierte der Forscher der Royal Holloway University of London an der Universität Graz die deutsche Ausgabe des Buches auf Einladung von Karl Kaser vom Fachbereich Südosteuropäische Geschichte. „Das Totenhaus“ ist im Fischer-Verlag erschienen.
In den Arbeitslagern rund um die Region des Baikalsees oder auf der Insel Sachalin am östlichsten Ende des Zarenreichs wurde nicht nur mit den wenigen Habseligkeiten, die die Sträflinge besaßen, reger Handel betrieben, sondern auch mit Identitäten. Da es keine schriftlichen Aufzeichnungen über die Verbannten gab, konnte man – mit etwas Glück, mit Gewalt oder durch Zufall – die eigene Haftstrafe reduzieren, oder, durch Pech, verlängern. Für die einem Todesurteil gleichkommende Abschiebung nach Sibirien brauchte es übrigens keine Gerichtsverhandlung und keine Beweise. Ohne die Möglichkeit eines Rechtsschutzes wurden daher oft auch politisch Unbequeme, KritikerInnen oder QuerdenkerInnen kurzerhand deportiert. Darunter befanden sich auch Intellektuelle wie Fjodor Michailowitsch Dostojewski, der seine Zeit der Verbannung in „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ verewigte. Der Titel des Werks lieferte Anleihen für Daniel Beers Publikation, die die Entwicklung Sibiriens vom gefürchteten Gefängnis bis zum „Kalifornien“ Russlands nachzeichnet. Die im Oktober 1916 fertiggestellte Transsibirische Eisenbahn trug wesentlich zu dieser Transformation bei.
Für „Das Totenhaus“ wurde Daniel Beer vergangenes Jahr mit dem mit 75 000 US-Dollar dotierten Cundill History Prize 2017 ausgezeichnet, einer der weltweit am höchsten dotierten Auszeichnungen für geschichtliche Sachliteratur.