Mythen begleiten die Menschen seit der Antike: Erst als Versuch, sich die Welt zu erklären, dann als moralisierende Geschichten, die in der Erziehung eingesetzt wurden. Moderne Mythenbildung umfassen bekannte, meist früh verstorbene Persönlichkeiten, wie etwa James Dean, oder einschneidende Ereignisse, beispielsweise den Untergang der Titanic.
Wie Mythen gesellschaftliche, politische oder psychologische Botschaften – mehr oder weniger versteckt oder offen – vermitteln, war eine jener Fragen, mit der sich ein neu gegründetes HabilitandInnen-Forum an der Universität Graz auseinandersetzt. Im Rahmen des Kick-Off Meetings konnten die NachwuchswissenschafterInnen vor Kurzem ihre Thesen und Beobachtungen an ausgewählten künstlerischen Objekten in Rom einer Prüfung unterziehen. Die Reise fand in Kooperation mit dem Istituto Storico Austriaco a Roma, dem Historischen Institut beim Österreichischen Kulturforum in Rom, statt.
Breites inhaltliches Spektrum
Warum finden sich Nixen und geheimnisvolle Wasserwesen in Kärntner Wandmalereien? Wie vollzog Erzherzog Johann den Sprung vom Mensch zum Mythos? Wieso prägten gerade Musiker die österreichische Identität in der Zwischenkriegszeit? Forschungsfragen, die die teilnehmenden HabilitandInnen im Rahmen des Kick-Offs gemeinsam diskutieren. „Wir haben das übergeordnete Thema bewusst offen gewählt, um inhaltliche Anknüpfungspunkte für möglichst viele ForscherInnen aus unterschiedlichen Disziplinen zu schaffen“, erklären die Initiatorinnen Eva Klein und Dagmar Probst vom Institut für Kunstgeschichte der Universität Graz den Hintergrund der Tagung mit dem Titel „Diversitäten von Mythen im Kontext der Künste“.
Verdeckte Malweise
Während Dagmar Probst sich mit der Herrschaftslegitimation der Habsburger auseinandersetzt, konzentriert sich Eva Klein in ihren Forschungen unter anderem auf die verdeckte Malweise. Ein bekanntes Werk ist das Wandgemälde „Allegorie der Freunde“ aus dem Jahr 1937 von Axl Leskoschek, das sich gegen den aufkommenden Nationalsozialismus und seine Folgen richtet. Dargestellt wird diese Kritik aber durch vordergründig nicht damit verbundene, weil mythologische Motive, wie zum Beispiel Ödipus mit dem Sphinx-Orakel oder Odysseus und die Sirenen. „Beides sind extrem gewalttätige Szenen. Wer das grausame Rätselspiel der Sphinx verliert, den erwürgt und verschlingt sie. Wer sich dem betörenden Gesang der Sirenen hingibt, muss das mit dem Leben bezahlen“, schildert Eva Klein. „Erst ein Blick hinter diese Mythen erlaubt eine Interpretation des Bildes auf seinen verschiedenen Bedeutungsebenen“, so die Forscherin.
Opfer- und Täterrollen
Dagmar Probst liefert ein zweites Beispiel: Artemisia Gentileschi (1593-1653) war eine bereits zu Lebzeiten berühmte italienische Malerin des Barocks. Sie wählte häufig Bibelmotive. Ein sehr bekanntes Gemälde zeigt Judith, die Holofernes enthauptet. Die ebenfalls gewaltvolle Szene verarbeitet zwar keinen politischen, aber einen persönlichen Hintergrund der Künstlerin: „Artemisia Gentileschi wurde vom Maler Agostino Tassi, zu dem sie ihr Vater in die Lehre geschickt hatte, vergewaltigt. Im darauffolgenden Prozess stand aber nicht der Täter am Pranger, sondern sie selbst: Gentileschi musste erst durch eine entwürdigende gynäkologische Untersuchung beweisen, dass sie keine Prostituierte war. In ihrer Kunst reflektiert sie Opfer- beziehungsweise Täterrollen sowie männliche und weibliche Machtstrukturen“, erklärt Dagmar Probst.
Die TeilnehmerInnen des HabilitandInnen-Forums zu Mythen wollen ab dem neuen Jahr alle ein bis zwei Monate zusammenkommen. Es sind sowohl offene Veranstaltungen für die breite Öffentlichkeit als auch interne Netzwerktreffen geplant. ForscherInnen, die sich im weitesten Sinn inhaltlich zuordnen können, sind gerne eingeladen, sich zu beteiligen.