„Ich darf in einem sehr privilegierten Umfeld leben und arbeiten“, unterstreicht Heike Wendt. Die aus Hamburg stammende Pädagogin ist seit einem Jahr Professorin für empirische Bildungsforschung an der Universität Graz. Ein Arbeitsschwerpunkt und gleichzeitig ein Herzensanliegen ist die Bildungsgerechtigkeit. In ihrem freiwilligen sozialen Jahr in der multiethnischen Jugendarbeit kam sie im Kosovo kurz nach dem Kriegsende bereits mit dem Thema in Berührung. In ihrer Dissertation widmete sich Wendt der Transformation des Bildungssystems in Südafrika nach dem Ende der Apartheit. Aktuell ist sie damit beschäftigt, ein Projekt mit dem Irak auch an der Universität Graz zu verankern und ein Doktoratsprogramm zur Stärkung der Empirischen Bildungsforschung in Südosteuropa aufzubauen.
Weltweite Vergleiche
Heike Wendt verantwortete sechs Jahre lang Deutschlands Teilnahme an den großen internationalen Schulleistungsuntersuchungen TIMSS und PIRLS und erforscht Unterschiede zwischen Schulsystemen. Besonders im Auge hat sie Fragen der Bildungsgerechtigkeit. „Dabei wurde mir bewusst, wie groß die Disparitäten auch im wissenschaftlichen Bereich in den unterschiedlichen Ländern sind“, berichtet sie. Reichlich Motivation, auch anderenorts Strukturen zu schaffen, damit junge Menschen aus Randgruppen und Minderheiten bessere Zugänge zum Bildungssystem bekommen und dort mehr Beachtung erfahren. Dafür müssen angehende LehrerInnen auch entsprechend geschult werden.
Wendt initiierte 2013 gemeinsam mit einer Universität in der Türkei ein Projekt zur interkulturellen Pädagogik. Der muttersprachliche Unterricht wurde damals – in einer Phase der Annäherung an die EU – gerade zumindest formal erlaubt, die Universitäten benötigten daher Unterstützung, damit auch die LehrerInnenausbildung den neuen Anforderungen gerecht werden konnte. Ein intensiver Studierendenaustausch mit Dortmund sollte angehenden PädagogInnen verdeutlichen, wie in verschiedenen Ländern mit Vielfalt umgegangen wird. Mit Veränderung der politischen Lage in der Türkei musste das Projekt jedoch eingestellt werden.
Die Wissenschafterin verlegte 2015 ihre Aktivitäten in den Nordirak und etablierte mit Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdiensts eine Partnerschaft mit der Universität Mossul, um aus der durch den IS besetzen Stadt geflüchtete Forschende wie Studierende dabei zu unterstützen, den Betrieb Universität aus dem Exil aufrechtzuerhalten. Im Rahmen von groß angelegten Zukunftskonferenzen diskutieren 80 LektorInnen und rund 400 Studierende zweimal jährlich zu aktuellen Themen, die in den starren irakischen Curricula keinen Platz finden, aber für Wiederaufbau und Versöhnung in der Region wesentlich sind. „Das sind ganz praktische Fragen wie ‚Wie kann in einer zu 70 Prozent zerstörten Stadt mit den großen Mengen verbrannten Plastiks umgegangen werden?‘ oder ‚Wie baut man dort Schulen wieder auf und wie muss sich Unterricht ändern?‘“, beschreibt Wendt.
Der heurige Austausch musste wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden, aber an einer Online-Vorlesungsreihe zum Thema Nachhaltigkeit nahmen 800 Studierende freiwillig teil. „Es gibt ein extrem großes Bedürfnis in der Region, mit der Welt in Kontakt zu treten“, betont die Professorin. Die Universität Graz wird nun als Kooperationspartnerin in das Projekt einsteigen. Wendt ist außerdem in einem privaten Verein engagiert, um tatkräftig vor Ort zu helfen:
Steiermark im Lockdown
Ihr nächstes Projekt wird ein lokales – und brandaktuelles: Gemeinsam mit dem neu gegründeten Forschungszentrum Inklusive Bildung der Universität und gefördert vom Land Steiermark wird sie Schulentwicklungsprozesse untersuchen und dabei einen besonderen Blick darauf werfen, wie sich der fehlende Präsenzunterricht in der Covid-Krise auf die Inklusion von Kindern mit besonderen Unterstützungsbedarfen auswirkt.