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Artenfrage

Tuesday, 23 July 2019, Forschen

Sophie Bitter-Smirnow erforscht wissenschaftliche Diskurse des 18./19. Jahrhunderts zum Ursprung des Menschen

Im 18. und 19. Jahrhundert sorgte die Frage nach dem Ursprung des Menschen für heiße Debatten innerhalb der wissenschaftlichen community, vornehmlich in Zentraleuropa und Nordamerika. Zwei Strömungen vertraten unterschiedliche Sichtweisen: „Die Anhänger der so genannten Monogenese glaubten an einen gemeinsamen Ausgangspunkt für alle Menschen. Vertreter der Polygenese dagegen waren überzeugt, dass es von Anfang an unterschiedliche ‚Arten‘ von Menschen gegeben haben muss. Nur so konnten sie sich das Abweichen mancher Menschen von der so genannten ‚Norm‘ erklären“, fasst Sophie Bitter-Smirnow vom Zentrum für Wissenschaftsgeschichte der Universität Graz zusammen.
Wie die beide Parteien für ihre Standpunkte argumentierten und wie sie versuchten, ihre jeweiligen Positionen wissenschaftlich zu untermauern, untersucht Bitter-Smirnow derzeit in ihrer Dissertation. Für deren Fertigstellung erhält die junge Forscherin nun Unterstützung des österreichischen Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) in Form eines Marietta-Blau-Stipendiums.

Ein wichtiges Konzept für Bitter-Smirnows Arbeit ist jenes der Hybridität, also einer Mischform von zwei vorher getrennten Systemen. Der österreichische Botaniker Anton Kerner von Marilaun (1831–1898) hatte erkannt, dass es in der Natur durch Vermischungen immer wieder zur Entstehung neuer Arten kommt. „Dadurch war die lange vorherrschende Sichtweise, dass allein der Mensch durch sein willentliches Eingreifen etwas Neues erschaffen kann, widerlegt worden“, erzählt Bitter-Smirnow. Die Frage, was eine „Art“ eigentlich ist, hatte seit dem 18. Jahrhundert aber nicht nur Pflanzenwissenschafter beschäftigt, sondern ganze Generationen von Forschern und Philosophen, die diese Frage auf den Menschen bezogen stellten. „Man wollte herausfinden, woher kulturelle Unterschiede stammen und warum manche Menschen ganz anders aussahen als das, was damals als ‚Standard‘ aufgefasst wurde – also der weiße, mitteleuropäische Mann“, schildert Bitter-Smirnow. „Dabei wurden elementare Fragen zum Ursprung des Menschen aufgeworfen und diskutiert, zu seinem Wesen und seiner Stellung in der Natur“, so die Historikerin.  

Was ist der Mensch also? Gab es ursprünglich einen „Prototypen“ oder mehrere? Erklärungsversuche für die eine oder andere Sichtweise gab es im Lauf der Zeit viele. Ein Schema, auf das sich viele große Denker der Aufklärung, darunter Immanuel Kant (1724-1804), beriefen, hatte der französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon (1707-1788), Mitte des 18. Jahrhunderts entworfen. Sein „Artkonzept“ konzentrierte sich allein auf die gelungene Fortpflanzung als Kriterium: Können zwei Individuen fruchtbare Nachkommen zeugen, gehören sie zur selben Art. Ein hieb- und stichfestes Argument für die Monogese, möchte man meinen. Doch auch hier fanden die Anhänger der Polygenese Grund zum Zweifel: „Man lehnte das Konzept als falsch ab und behauptete, dass Kinder, die durch Vermischung entstehen, steril oder kränklich seien oder dass es ab der zweiten Generation zu einer Ausdünnung käme“, erklärt Bitter-Smirnow. In den USA war das Argument von „unharmonischen Kreuzungen“ bis in die 1920er-Jahre verbreitet und einer von vielen Gründen, warum die Eheschließung zwischen schwarzen und weißen Menschen lange bekämpft wurde.  

Bemerkenswert ist, dass die Diskussion zwischen Monogenisten und Polygenisten sich trotz einschneidender historischer Ereignisse über so lange Zeit hielt: Darwins Evolutionstheorie erblickte 1859 das Licht der Welt, die Sklaverei war in Großbritannien 1833 abgeschafft worden – und dennoch ging die Debatte weiter. Erst als die Genetik Anfang des 20. Jahrhunderts zum unumstößlichen wissenschaftlichen Standard wurde, verlor die Streitfrage allmählich an Bedeutung. „Das Thema Ungleichheit ist aber natürlich nach wie vor aktuell, wenn auch heute in einem anderen Kontext“, so Bitter-Smirnow. Mit Hilfe des Marietta-Blau-Stipendiums wird die Doktorandin die kommenden sechs Monate am Centre for the Study of Life Sciences der University of Exeter, Großbritannien, verbringen und sich dort auf das Abschließen ihrer Dissertation konzentrieren.

 

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