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Schöner Schein

Monday, 19 October 2015, Forschen, Universität, Sozial & Wirtschaftswissenschaften, presse

SoziologInnen nehmen die Selbstdarstellung der „Verbotsstadt Graz“ unter die Lupe

Sauber, sicher, leise: Graz will für ihre BürgerInnen eine angenehme Kleinstadt ohne lästige Störfaktoren sein – und liegt damit voll im Trend. „In ganz Europa lassen sich zunehmend Tendenzen erkennen, innerstädtische Räume zu ästhetisieren. Dazu gehört auch, gesellschaftliche Gruppen, die nicht ins Wunschbild passen, gezielt auszuschließen – zum Beispiel BettlerInnen, Obdachlose oder systemkritische Jugendliche“, erklären Dr. Gerlinde Malli und Dr. Susanne Sackl-Sharif, Soziologinnen an der Karl-Franzens-Universität Graz. Diese Entwicklung drückt sich in über Landesgrenzen hinweg in einer Zunahme von Verboten aus. Wie die Stadt Graz in ihren offiziellen Kommunikationskanälen Stellung dazu bezieht und wie lokale, nationale und alternative Medien über die „Verbotspolitik“ berichten, haben die Wissenschafterinnen über ein Jahr lang untersucht. Gemeinsam mit Studierenden sprachen sie außerdem mit Betroffenen – BettlerInnen, Punks, SprayerInnen und StraßenmusikerInnen – und dokumentierten deren persönliche Sichtweisen.


Konkret haben die Wissenschafterinnen das Magazin „BIG“ (Bürgerinformation Graz), das Webportal der Stadt sowie offizielle Amtsblätter in den Blick genommen. „Dabei fällt auf, dass in sehr vielen Berichterstattungen das Thema Sicherheit besonders hervorgestrichen wird – etwa bei der Einhaltung des Jugendschutzgesetzes, des Alkoholverbots an öffentlichen Plätzen oder bei sportlichen Großevents“, berichtet Malli. Zudem stellt eine beträchtliche Anzahl an News-Einträgen die Stadt als sauber und umweltbewusst dar: Projekte wie der Giftmüll-Express, der steirische Frühjahrsputz oder die Muruferreinigung finden häufig Erwähnung.

 

Das Fazit der Forscherinnen: „Graz zeigt sich gerne als lebenswerter und innovationsfreudiger Ort, der Bildung, Forschung und Unternehmertum fördert. So wird aber gleichzeitig auch die Einführung immer neuer Ge- und Verbote legitimiert.“ Deutliche Unterschiede machen die ForscherInnen im zweiten Teil ihrer Analyse zwischen den lokalen und nationalen Zeitungen und den alternativen Medien aus. „Die Blattlinien der etablierten Printmedien geben Formen der Berichterstattungen sowie offizielle Meinungen bis zu einem gewissen Grad vor. Die alternative Szene hat weniger Verpflichtungen zu erfüllen und positioniert sich daher wesentlich leichter“, resümiert Sackl-Sharif. Zudem arbeiten MedienmacherInnen und OrganisatorInnen von Protest- und Kunstaktionen meist eng zusammen. Daraus ergibt sich oft eine Eigendynamik, die diese Szene geeint erscheinen lässt, so die Wissenschafterin.


Gründe für die Zunahme der europaweiten „Verbotskultur“ sehen Malli und Sackl-Sharif in einem allgemeinen Fokus auf den Wirtschaftsfaktor: „Ökonomische Überlegungen dominieren immer häufiger die urbanen Erscheinungsbilder. Darum gibt es für freie Gestaltungsmöglichkeiten oft nur sehr eingeschränkt Raum – sowohl im physischen als auch im rechtlichen Sinn.“ Geschaffen werde so eine konsumorientierte „heile“ Welt. Personen, die außerhalb des normierten Gesellschaftsbereichs leben, erfahren die Konsequenzen hautnah: „BettlerInnen, StraßenmusikerInnen oder Punks werden weggewiesen beziehungsweise in Seitengassen verdrängt. Probleme, die sich durch diese Personen möglicherweise ergeben, werden aber nicht gelöst, indem man ihnen ihre Existenzberechtigung abspricht“, machen sich die Soziologinnen für ein kompromissbereites Miteinander stark. Die Studierenden haben in persönlichen Portraits einfühlsam die Situationen Betroffener festgehalten: „Uns war es wichtig, neben der wissenschaftlichen Analyse in unserer Studie auch jenen Menschen Gehör zu verschaffen, die sonst kein Sprachrohr haben“, halten die Forscherinnen fest.


Publikation: Gerlinde Malli & Susanne Sackl-Sharif (Hg.) (2015). Im Schatten der Fassaden. Leben zwischen Verbot und Widerstand. Grazer Zwischenräume aus stadtsoziologischer Perspektive. Wien u.a.: Lit-Verlag.

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